Februar 2013

Entdeckungen und Rätsel rund um Ernst Goll

(geschrieben für die Zeitschrift ODSEVANJA, Slovenj Gradec)

von Christian Teissl

Ernst Golls tragischer Tod fand unmittelbaren Widerhall in einer Reihe von Presseartikeln, vornehmlich in Grazer Blättern. War in den ersten Berichten noch nicht vom Freitod eines jungen Poeten die Rede, sondern lediglich vom Todessturz eines Studenten, so wird bereits wenige Tage später Golls dichterisches Vermächtnis gerühmt und eine Drucklegung seiner Gedichte gefordert.
Die wohl ausführlichste Würdigung seiner Persönlichkeit erschien am 20. Juli 1912 im "Grazer Tagblatt". Dabei handelt es sich um einen drei Tage zuvor verfassten Korrespondentenbericht aus Windischgraz. Gezeichnet ist dieser Bericht mit dem Kürzel E. St. Unter Golls Dichter- und Künstlerfreunden weiß ich niemanden, auf den diese Initialen passen; markante Einzelheiten wie der Hinweis auf den 1903 tragisch ums Leben gekommenen Philosophen Otto Weiniger lassen allerdings vermuten, dass der Verfasser über literarische und philosophische Bildung verfügte. Selbst für damalige Verhältnisse und nach damaligen Begriffen ist sein Text kein typisch journalistisches Erzeugnis, sondern ein Nekrolog mit stark literarischen Zügen. Nicht ein neutraler Berichterstatter ist es, der hier seine Stimme erhebt, nicht ein Außenstehender, sondern ein Vertrauter Ernst Golls und – wie ich vermute – ein Bewohner des damaligen Windischgraz.
Mag das Geheimnis seiner Identität auch für immer ungelüftet bleiben, sein denkwürdiger Bericht soll nicht länger vergessen sein. Hier sein voller Wortlaut:

Ein sonniger Sommertag! Die Luft zittert über den Feldern, die Schnitter lassen ihre Sensen ruhen – über die Straße wird ein blumenbeladener Sarg zu Grabe getragen. Und wie immer erst die Menschen ihre T o t e n schätzen, folgen Menschen dem Zuge nach, wie sie an Zahl sein Heimatsort noch nicht gesehen hatte. Von Nord und Süd, von Ost und West, aus Stadt und Land mit Blumen und mit Kränzen, als ob sie die Blüten zurückerstatten wollten, die sie für sich aus seinen Dichtungen empfangen haben.
Wie ein Reif in der Frühlingsnacht hat es die junge Menschenknospe, die sich mit den realen Seiten unseres Lebens nicht abfinden konnte, hinweggerafft. Es bestehen Sagen und Märchen von Menschen, die das Leben so geliebt haben, daß sie an dieser Liebe sterben mußten. Ernst Goll gehört zu diesen Menschen. Es sind jene Naturen, die das heilige Feuer in sich tragen, das keine andere Nahrung verträgt als die eigene. Mimosenartig hüten sie es und sterben in den Wechselfällen des Lebens daran. Und gerade bei großen Menschen finden wir derartige Ereignisse, sonst hätte auch der jung anerkannte Wiener Philosoph Weininger nicht an sich selbst verzweifeln können. Wen überrascht nicht die Kunde, daß der junge Lyriker schon durch Monate die Todesidee mit sich herumgetragen hat? Als ich ihn vor zwei Monaten traf und von einem Wiedersehen in den Ferien sprach, da wich er der Frage aus und sagte: "Vielleicht". –
Heute kann ich mir das damalige Benehmen erklären. Die Idee hatte sein Leben unerbitterlich erfaßt, sie hatte sein Tun und Handeln geleitet und von ihrer Verwirklichung erwartete er schließlich die Stillung aller Sehnsucht. Für eine weiche, zartbesaitete Menschenseele mußte sich dieser Aktschluss unerbittlich erfüllen.
Die Menschen erzählen seit zwei Tagen von dem Toten, jeder packt aus seiner Erinnerung etwas aus und es ist nur G u t e s. Er war ein Sonnenmensch, den ein stiller Schmerz, eine unstillbare Sehnsucht nach Schönheit das Wesen gaben. Er hatte keine Feinde und er schied freiwillig aus dem Leben. Nur Naturen, die selbst ähnliche Sturm- und Drangperioden mitgemacht haben, verstehen ihn. Es sind dies die Geheimnisse eines jeden werdenden, gemütstief veranlagten Menschen, der ebenso enden konnte wie er. Jeder weiß es heute und schaudert bei dem Gedanken. Die Verkettung der Umstände schmiedet im Leben des Menschen Glück und Unglück. Über das Unvermeidliche hat unser teurer Tote nicht hinweggekonnt.
Leise verklingt über den weiten grünen Totenacker der tief gestimmte Männerchor. "Es ist bestimmt in Gottes Rat, daß man vom Liebsten, was man hat, muß scheiden", die Trauerweiden raunen es von Baum zu Baum, die Erdschollen fallen als letzter Abschiedsgruß auf den Sarg unseres jungen Freundes, die Blumen türmen sich zu Bergen und still verläuft [sich] die schwarze Menschenschar.
Die Blumen verwelken und uns Überlebenden geziemt es, aus dem geistigen Erbe unserem jungen Dichter in uns ein Denkmal zu setzen.
E. St.

Vier Tage zuvor, am 16. Juli, brachte die "Marburger Zeitung" einen weitaus kürzeren, doch nicht minder bemerkenswerten Nachruf auf den jungen Dichter. Einer kurzen redaktionellen Einleitung folgt eine Totenklage, die von großer Affinität zu Wesen und Werk des Toten zeugt, persönliche Differenzen dabei jedoch nicht verschleiert:

Vielleicht erinnern sich noch einige an ihn? Der blonde, verträumte Windischgrazer, als Siebzehnjähriger schon ein beachtenswertes dichterisches Talent, hat das hiesige Gymnasium besucht und absolviert und sodann die philosophische Fakultät der Universität Graz bezogen. Dieselben Ziele, die wir mit gleicher Begeisterung verfolgt, haben uns auseinandergeführt, doch nie entfremdet. Und auch dort, wohin ich ihm noch lange nicht folgen will, werden ihn meine Freundesgedanken oft und oft suchen.
Ernst Goll ist ein großer Dichter geworden; trägt er, der fünfundzwanzigjährig freiwillig von uns gegangen ist, allein die Schuld daran, daß er ein großer Dichter war? Kaum ist ein Poet so still durch den Lebensfrühling gegangen wie er, kaum wird es einen anderen Dichter gegeben haben, der so Bedeutendes leistete, ohne daß viele darum wußten.
Und darin ist vielleicht das verhängnisvolle Schicksal meines armen Freundes, gewiß aber das Geheimnis zu suchen, das ihn immer wie eine Schleierwolke umgeben; fürchtete Ernst Goll die Öffentlichkeit oder hielt er noch an sich, um sie sich als Meister zu erobern? Vielleicht, mein lieber Freund, weil du mit dem Leben nicht gekämpft hast, hat dich das Leben genommen. Nun aber träume …
Alfred Maderno (Schmidt)

Diese Zeilen atmen den Geist der Freundschaft, stehen zugleich aber auch im Zeichen der Trauer um einen verlorenen Sohn; schließlich hat Goll die Stadt an der Drau mit 18 Jahren für immer verlassen.
Während es über sein Grazer Leben eine Fülle von Zeugnissen gibt, sind seine Marburger Jahre in weiten Bereichen eine terra incognita, trotz einiger aussagekräftiger Briefe, die aus dieser Zeit, zumindest in Abschrift, vorhanden sind. Dass Golls Theaterfieber nicht erst in Graz, sondern bereits in Marburg ausgebrochen ist, geht aus ihnen unmissverständlich hervor, und dass er nicht erst in Graz, sondern bereits in Marburg zu dichten begonnen hat, lässt sich anhand datierter Manuskripte belegen. Ob er aber in Marburg über einen ähnlich großen Freundeskreis verfügte wie in Graz und wer diesem Freundeskreis angehört haben mag, ist mangels gesicherter Quellen kaum mehr zu ermitteln. Wir wissen lediglich die Namen seiner Mitschüler am K.K. Staatsgymnasium Marburg, das er acht Jahre lang besucht hat; in den damaligen Jahresberichten der Schule sind sie alle verzeichnet.
Unter den 44 Klassenkameraden, mit denen Goll im Jahr 1905 zur Reifeprüfung antrat, gab es einen Barbič und einen Hofmann, einen Jančič und einen Plöckinger, einen Lešničar und einen Gottscheber; in Golls Maturaklasse saß aber auch der gebürtige Marburger Alfred Schmidt. Ihn und noch eine Handvoll anderer Kollegen karikierte der blutjunge Dichter in einer Humoreske, die wohl noch auf der Schulbank entstanden sein dürfte und sich als Fragment in seinem Nachlass erhalten hat. Mit der Feder auf ein doppelt gefaltetes Blättchen gekritzelt, ließ sich dieses Fragment mit einiger Mühe entziffern, und so fand es Eingang in meine Ausgabe, unter dem (von mir gewählten) Titel "Die Lateinstunde".
Was Goll hier in launigen Hexametern zum Besten gibt, ist kein frei erfundener Schwank, sondern eine Anekdote aus seinem schulischen Alltag. Er selbst tritt dabei lediglich als Randfigur in Erscheinung, während sein Mitschüler Schmidt durch eine pfiffige Wortmeldung fünf Verse lang im Mittelpunkt steht. Die Art und Weise, wie Goll ihn schildert, beweist Sympathie, und es ist kein Zufall, dass Schmidt am Anfang dieser Geschichte nicht allein das Klassenzimmer betritt, sondern gemeinsam mit Goll.
Vor diesem Hintergrund bekommt so manche Formulierung in dem Nachruf der "Marbuger Zeitung" – jene etwa von den "gemeinsamen Zielen" – Sinn und Gewicht, und als ich das Fragment der "Lateinstunde" entziffert hatte, stand für mich außer Zweifel, dass der Verfasser dieses Nachrufs niemand  anderer sein konnte als Golls Schulfreund Alfred Schmidt. Seinem weiteren Geschick, seiner Biographie ging ich allerdings nicht auf den Grund, und so staunte ich nicht wenig, als ich Wochen nach der Drucklegung meiner Goll-Ausgabe in einem alten, längst nicht mehr aktuellen Autorenlexikon den folgenden Eintrag entdeckte:

Maderno (eig. Schmidt), Alfred, * 25. 10. 1886 Marburg/ Drau, † 17. 3. 1960 Berlin; Studium der Germanistik und Kunstgeschichte in Graz, Heidelberg, Wien; seit 1912 freier Schriftsteller; ab 1919 Feuilletonredakteur in Mannheim, Baden-Baden, Berlin. Erzähler, Reiseschriftsteller, Kulturredakteur.

Dass aus Golls Mitschüler Schmidt ein nachmals überregional bekannter, ungemein fruchtbarer Schriftsteller wurde, ist bis zum heutigen Tag weithin unbekannt. Auch der (bereits verstorbene) Grazer Goll-Forscher Hubert Fussy, dessen Arbeiten ich wesentliche biographische Hinweise und Informationen verdanke, erwähnt den Namen Maderno an keiner Stelle.
Unter diesem Namen veröffentlichte Alfred Schmidt eine lange Reihe von Romanen, größteneils in deutschen Verlagen. Daneben versuchte er sich zeitweilig aber auch als Literarhistoriker: Kurz nach dem Ersten Weltkrieg, 1921, publizierte er bei Gerstenberg in Leipzig ein Handbuch zur "Deutschösterreichischen Dichtung der Gegenwart". Darin widmete er eine ganze Seite seinem einstigen Schulfreund, wobei er Persönliches diskret ausspart und sich auf das dichterische Werk konzentriert.  Madernos Charakterisierung hebt sich wohltuend ab von dem damals üblichen Goll-Diskurs. Er treibt weder Genie- noch Totenkult; sein Blick ist nicht verklärend, sondern klar und genau, und so beschert er uns einige wertvolle Erkenntnisse, die ich hier abschließend zitieren möchte:

Goll ist am 13. Juli 1912 freiwillig aus dem Leben geschieden. Die Gründe gehören nicht hierher. Der kaum fünfundzwanzigjährige Dichter war Südsteirer und acht Jahre lang mein Schulkamerad auf dem Gymnasium. Unter diesem Hinweis darf ich bei der Würdigung des dichterischen Nachlasses meines Freundes, der mir auch während der Universiätszeit noch nahestand, der Behauptung eines großen Teiles seiner Kritiker, Golls Gedichte seien echt südsteirisch, widersprechen. Ich halte es sogar für nicht sehr pietätvoll, ein (durch Rudolf Hans Bartsch) literarisch in Mode gekommenes Land wie die Steiermark zu einem Dichter, der ihm entstammt, unter allen Umständen in Beziehung bringen zu wollen. Ich gebe zu, daß hin und wieder eins der Gedichte Golls etwas von der eigentümlichen südsteirischen Schwermut, die slavischen Ursprungs ist, mitbekommen hat; im allgemeinen aber und in Wahrheit ist Golls Lyrik, so umflort sie auch klingt, örtlich unbegrenzt und auch völkisch farblos. Gerade das letztere aber ist bei der echt südsteirischen Dichtung aus der Werdezeit Golls unmöglich. Das eine steht fest: die Steiermark hat ihren größten künftigen Lyriker in Goll verloren. Seine Kunst ist gewiß durch und durch modern, sie ist aber zugleich die Trägerin einer heute noch nicht ernst genommenen Moderne, die wiederum mit Empfindungstiefen und formalen Schönheiten allein wirken will. Ich möchte bestreiten, daß Goll namhafte Vorbilder gehabt hat. Wohin der von ihm eingeschlagene Weg in der Lyrik führen kann, zeigt die ergreifende Wirkung seiner Lieder. Der Dichter und Tote verdient es, als Vorläufer einer wiederkehrenden echten, gesunden Kunst unvergessen zu bleiben. Unvergessen wie sein großer Heimatgenosse Hugo Wolf, dessen dunklem Schicksal vielleicht auch Goll zugetrieben worden wäre, hätte er auf halbem Wege nicht selbst haltgemacht.

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