März 2014

Golls erste und letzte Verse

von Christian Teissl

(erschienen im Sommerheft 2014 der Zeitschrift ODSEVANJA, Slovenj Gradec, in der slowenischen Übersetzung von Jelka Samec Sekereš)

Wann, in welchem Alter Ernst Goll seine ersten literarischen Gehversuche unternommen hat, lässt sich nicht mehr mit Sicherheit sagen. Das Schreibbuch, das er, knapp sechzehnjährig, zu Weihnachten 1902 von Elsa Hofmann in Windischgraz geschenkt bekam, blieb zunächst leer und unberührt in der Schublade liegen. Erst neun Monate später, am 27. September 1903, holte er es hervor, um mit sorgfältiger Schülerschrift das folgende Gedicht einzutragen:

Bild "Golls erstes Gedicht_Titel_kl.jpg"

Es war einmal – lieb Mütterchen erzählt,
Und leise, leise, wie mit Geisterhand,
Führt sie die traumberauschte Kinderwelt
Die frohe Fahrt ins sonn'ge Märchenland.

Da liegt Schneewittchen bleich im Totenschrein
Und bärt'ge Zwerge halten treue Wacht;
Frau Holle fliegt in rotem Feuerschein
Mit ihrem Trosse durch die Weihenacht.

Dornröschen träumt, in Zauberschlaf gebannt,
Umstrickt von Rosenhecken sonder Zahl;
Ins stolze Schloß in schimmerndem Gewand
Eilt Aschenbrödel zu dem Königsball. –  –

Und tausend Sterne ziehn am Himmelsraum,
Und dunkel wird's, die Kleinen achten's nicht,
So süß versenkt in wonnigen Kindertraum,  –
In Feenreiche, sonnig, hell und licht. –  –

Vorbei – der holde Märchentraum versiegt,
Der Jugend Blütenschnee vom Haupt verweht;
Lieb Mütterlein, dem Erdenleid entrückt,
Schon längst im Schlaf, dem niemand mehr entgeht.

Ich steh' am Grab – die bleiche Lippe bebt –
Und press' die Stirne in die Blumenpracht:
Wie alles rings in goldnem Lichte webt!
In mir ist's ewig, ewig dunkle Nacht.

Allein, verwaist, in lieblos kalter Welt,
Die Stirn gefurcht von Leid und bittrer Qual,
Der ganze, große Jugendtraum zerschellt;
Die sel'ge Kinderzeit – es war einmal!  
Bild "Golls erstes Gedicht_Datierung_kl.jpg"

Wiewohl es sich bei diesen märchenseligen Versen um die früheste poetische Äußerung handelt, die uns von Goll überliefert ist, habe ich mich bislang beharrlich geweigert, in ihnen den Auftakt zu seinem literarischen Lebenswerk zu sehen. Deshalb finden sie sich in meiner Goll-Ausgabe nicht dort, wo sie der chronologischen Ordnung nach hingehören, nämlich am Anfang des ersten Kapitels, vor dem Gedicht "Märchen" vom 29. Jänner 1904, sondern gut versteckt im editorischen Anhang, kleingedruckt und mit dem etwas vorlauten Kommentar versehen, es handle sich hier noch nicht um Golls Opus 1, sondern lediglich um eine jugendliche Fingerübung.
Mittlerweile bin ich mir nicht mehr sicher, ob sich diese Einschätzung aufrecht erhalten lässt, denn auch wenn dieses Gedicht mit seinem romantischen Pathos auf den ersten Blick so wirkt, als wäre es nicht 1903, sondern 1803 entstanden, lässt es doch immerhin erahnen, welches poetische Temperament hier am Werk und im Werden war. Besonders in der letzten Strophe klingt ein Leitmotiv der reifen Goll'schen Lyrik an, das uns auch in seinem Fragment gebliebenen Dramenversuch begegnet: Das Kind, das nicht mehr Kind sein darf, fühlt sich verwaist und verloren unter herzlosen Rechnern und Händlern. Seine Klage deutet voraus auf das traurige, trotzige Liebespaar in den späten, meisterhaften Versen: "Wir sind": "Wir sind zwei verirrte Gefährten/ Im großen Walde der Welt/ Wir sind die Glückverwehrten/ die keine Heimat hält."



Auf die Frage, welches der Gedichte Ernst Golls als sein letztes gelten darf, konnte bisher niemand eine eindeutige Antwort geben; auch meine Ausgabe konnte in dieser Frage keine Klarheit schaffen. Denn während Goll seit seiner Gymnasiastenzeit Reinschriften seiner Gedichte für gewöhnlich auf den Tag genau zu datieren pflegte, rückte er am Ende seines Lebens von dieser Gepflogenheit mehr und mehr ab: Die wenigen Gedichte, die er nach Weihnachten 1911 in seinem Grazer Schreibbuch festgehalten hat, sind ausnahmslos undatiert; nur von einem, der berühmten, viel zitierten "Grabschrift" kennen wir noch einen anderen Textzeugen, der das Datum 13. April 1912 trägt.
Geht man davon aus, dass ein Autor nach einem solchen Adieu nur noch verstummen kann, so darf man wohl annehmen, dass Goll in seinen letzten drei Lebensmonaten nichts Poetisches mehr zu Papier gebracht hat. Dieser Annahme habe auch ich bisher zugeneigt. Groß war daher mein Erstaunen, als mir kürzlich Mitarbeiter der Steiermärkischen Landesbibliothek ein Blatt zeigten, das sie bei der Neuordnung ihrer Bestände entdeckt hatten: ein völlig unbekanntes Manuskript Ernst Golls, die datierte und signierte Reinschrift des folgenden Gedichts:

Bild "Goll_Wahrsagerin_kl.jpg"

Nachlass Wilhelm Danhofer, Steiermärkische Landesbibliothek


Bei der Wahrsagerin

Wir fahren Bob auf der Blumenwiese,
Ist das nicht töricht, Zigeunerliese?
Hier unsere Hände, und nun geschwind,
Sag, daß wir dumme Jungens sind!

"Möchte mich gerne den Herren verbinden,
Kann's aber nicht so töricht finden.
Doch etwas anderes lese ich d'rein:
Ihr saßet einmal bei hellem Wein
In einem lieben Mädchenzimmer;
Da war so traulich der Lampe Schimmer.
Die Mädels baten, ihr möget bleiben,
Es wäre so hübsch die Zeit zu vertreiben.
Ihr aber schiedet – und war doch Lenz –
Von wegen der Intelligenz.
Hier diese Linien weisen es klar,
Daß das noch viel mehr töricht war
Als euer Bob auf der Blumenwiese." –

O, wie du recht hast, Zigeunerliese!

Mein Staunen über diesen unerwarteten Fund steigerte sich zur Verblüffung, als ich auf das Datum sah: 14. Mai 1912! Ein Monat nach der "Grabschrift" also noch ein lyrisches Scherzo!
Schon der erste Vers, "Wir fahren Bob auf der Blumenwiese", macht deutlich, dass der Autor uns hier keineswegs ins "bittere Menschenland" geleiten will, sondern vielmehr auf jenes sonnige Terrain, wo auch seine (bislang unveröffentlichten) Windischgrazer Scherzgedichte angesiedelt sind, allen voran die vielstrophige "Rodelhymne" vom Jänner 1908. Keine Rede ist hier vom Abschiednehmen, keine Rede von Weltschmerz und Todesnähe; jugendlicher Übermut beherrscht die frühlingshafte Szenerie. Die Wahrsagerin sagt den "jungen Herren" nicht etwa das baldige Ende voraus, sondern erinnert sie an eine verpasste amouröse Gelegenheit beim Frühlingserwachen.  

Einmal mehr zeigt sich, dass es ein Fehler ist, den Weg eines Dichters wie Ernst Goll als Tragödie in fünf Akten begreifen zu wollen, mit klarer Ausgangssituation, Klimax in der Mitte und Katastrophe am Schluss. Dichtung folgt keinem derartigen Schema, keinem vorgefassten Plan, sondern ihren eigenen Gesetzen jenseits von Logik und Psychologie. So ist es möglich, dass der erste lyrische Versuch des Sechzehnjährigen in tiefer Schwermut ausklingt, das letzte poetische Lebenszeichen des Fünfundzwanzigjährigen hingegen in heiterer Selbstironie.

Nachbemerkung:
Die Manuskripte beider hier zitierten Gedichte befinden sich im Besitz der Steiermärkischen Landesbibliothek in Graz. Der Dank des Autors für wertvolle Hilfe gilt Susanne Eichtinger und Dr. Hannes Lambauer.