Dezember 2014

Wundersame Lieder ...

Gollvertonungen, erstmals eingespielt!

von Christian Teissl

Ernst Goll genoss niemals den Klassikerstatus eines Heym oder Trakl; kein einziger seiner Verse fand bis dato Aufnahme in den Kanon deutschsprachiger Lyrik, in die großen, maßgeblichen Anthologien, doch gehört er ohne Zweifel zu den meistvertonten Lyrikern seiner Generation.
Namentlich in den ersten zwei, drei Jahrzehnten nach seinem Tod, als das Gedichtbuch "Im bitteren Menschenland" noch die Runde machte und zumindest regional Kultstatus genoss, gab es kaum einen steirischen Komponisten, der sich nicht durch die klangvollen Verse des Frühverstorbenen zu einem Lied inspirieren ließ. Aber auch außerhalb von Golls engerer Heimat fanden sich Tondichter, die Golls "Wundersame Lieder" in ihre Sprache übertrugen, und im Blick auf die lange, wechselvolle Goll-Rezeption von anno 1910 bis heute gewinnt man fast den Eindruck, sein Werk sei weitaus öfter vertont als gelesen worden.

In puncto Goll-Vertonungen hat uns die jüngste Zeit reich beschenkt, mit einer Wiederentdeckung und einem überraschenden Fund: Wiederentdeckt wurde der zehnteilige Liederzyklus "Im bitteren Menschenland", das Opus 9 der Karlsruher Komponistin Margarete Schweikert, aufgefunden der sechsteilige Goll-Liederzyklus des steirischen Cellisten und Komponisten Josef Wagnes.

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Margarete Schweikert (1887-1957); Josef Wagnes (1891-1979), Quelle: Andreas Stangl

Während der Zyklus von Schweikert bereits am 18. Mai 1915 erstmals aufgeführt wurde, blieben die einfühlsamen Vertonungen von Wagnes zu seinen Lebzeiten unbekannt und noch Jahrzehnte über seinen Tod hinaus im Verborgenen. Andreas Stangl, einem Urenkel des Komponisten, ist es zu danken, dass sie nun, gemeinsam mit den anderen, handschriftlich erhalten gebliebenen Werken des Komponisten, endlich ihr Publikum gefunden haben. Stangl, der selbst bereits mit Goll-Chansons in bester Singer-Songwriter Manier hervorgetreten ist, entdeckte in seinem 1979 verstorbenen Urgroßvater einen Vorläufer im schönsten Sinne des Wortes, und tat, was zu tun war, stellte ein Projekt zur Erforschung, Edierung und Einspielung von Wagnes' schmalem, doch markantem künstlerischem Vermächtnis auf die Beine. Erstes Ergebnis dieser Bemühungen ist die bei Gramola erschienene CD "Gönn' mir doch das bißchen Himmelsblau", die heuer, gemeinsam mit Musizierenden der Grazer Kunstuniversität, realisiert werden konnte; eine umfassende Notenedition ist in Arbeit.  

"Besonders am Herzen lagen Josef Wagnes die Gedichte von Ernst Goll", lesen wir in Stangls Liner Notes. "Zu diesem tragisch am Leben gescheiterten Dichter empfand er eine Art Seelenverwandtschaft. Sechs seiner sieben Goll-Vertonungen fasste Wagnes in einer gebundenen Reinschrift zusammen." Dabei handelt es sich allerdings nicht nur um eine Sammlung, sondern einen zyklisch aufgebauten Liederreigen, beginnend mit dem "Morgengruß", endend mit der "Grabschrift". Dazwischen stehen das "Rätsel", die "Sternennacht", die "Wundersamen Lieder" und das "Schlummerlied, allerdings nicht jenes, das auf der Wiese zu singen ist und schon zu Lebzeiten des Dichters veröffentlicht wurde (siehe Ernst Golls Weg an die Öffentlichkeit), sondern jenes, das mit den Versen beginnt: Nun sinkt die Nacht hernieder/ Mit Mond und Sternenschein … (in meiner Ausgabe steht es auf S. 82, als eines der ersten "Gedichte der Reife").  
Das siebente, für sich stehende Goll-Lied von Josef Wagnes trägt den schlichten Titel "Ein Lied" und ist eine atmosphärisch dichte, exemplarische Vertonung des gleichnamigen Gedichts vom 2. Juli 1910 (in meiner Ausgabe auf S. 114). Wie alle anderen Goll-Lieder von Josef Wagnes wurde auch dieses bei der Uraufführung von der Mezzosopranistin Klaudia Tandl interpretiert, am Klavier begleitet von Yosuke Osada; die genannte CD gibt den Livemitschnitt wieder.

Margarete Schweikerts eindrucksvoller Goll-Zyklus folgt einer anderen inneren Logik als jener von Wagnes, beginnt mit dem "Opfer" und endet mit einer atemberaubenden Version des späten, emblematischen Gedichts "Die Liebenden", dessen letzte Zeile Julius Franz Schütz anno 1912 nicht von ungefähr als Titel für die Erstausgabe gewählt hat. Wer Golls Liebenden in der musikalischen Gestalt, die Schweikert ihnen hier verliehen hat, auch nur einmal begegnet ist, wird sie nie wieder vergessen. Dazwischen reihen sich, wie Akte in einer Liebestragödie mit retardierenden, hoffnungsvollen Momenten, doch unentrinnbarem Ausgang, die Lieder "Ich sah ein Blümlein", "Jubel", "Verlöbnis", "Trotzige Liebe", "Bitte", "Ahnst du?", "Ein Brief" und "Zwei Vöglein" aneinander. Mit sicherer Hand hat Margarete Schweikert ausschließlich solche Gedichte gewählt, die Golls persönliche Sprache in reinster, schlackenloser Ausprägung zeigen, Gedichte seiner letzten, poetisch fruchtbarsten Lebensphase.    
Zu hören ist Schweikerts kongenialer Zyklus in einer Studioeinspielung auf der CD "Margarete Schweikert - Im bitteren Menschenland", einer Coproduktion des Labels Ars Musica mit dem SWR, interpretiert von dem Tenor Bernhard Berchtold, am Klavier begleitet von Jeannette La-Deur, die sich um die Wiederentdeckung Margarete Schweikters große, bleibende Verdienste erworben hat.

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