Drei Bodenproben

von Christian Teissl

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Die Chronisten

Als Kind von sieben, acht Jahren saß ich an Sonn- und Feiertagen staunend bei den Erwachsenen und lauschte ihren Gesprächen: Eine ganze Chronik wurde da ausgebreitet, halb Familien-, halb Gemeindechronik. Kein Unglück, das sich auf diesem oder jenem Riegel zugetragen hatte, blieb unerwähnt; alle Verwandtschaften, mochten sie noch so weitläufig sein, wurden aufgelistet, sämtliche Lebensweisen und Todesarten von Geschwisterkindern vierten Grades, von Nachbarstöchtern und -söhnen ans Licht gehalten, gedreht und gewendet.
Da wirbelten die Haus- und Schreibnamen wild durcheinander, die Namen von Toten mischten sich unter die der Lebenden. Ohne vom Tisch aufzustehen, wanderte man verschüttete Jahre hinauf und hinunter, ging immer den Namen nach querfeldein, auf längst verschwundenen Wegen längst begradigte Flüsse entlang, von Hof zu Hof, von Dorf zu Dorf.


2
Der lange Schatten der Namen

Am Land färbt jeder Name ungleich stärker auf seine Umgebung ab als in der Stadt. Der Wald etwa, der zum Hof des vulgo Poschhölzel gehört, ist das Poschhölzel-Holz, die sanfte Talmulde hinter dem Anwesen vulgo Gutschi der Gutschi-Graben. Kapellen heißen, selbst wenn es sich um zentral gelegene Dorfkapellen handelt, im Volksmund nicht nach den Heiligen, denen sie geweiht sind, sondern tragen für gewöhnlich den Vulgonamen des nächstgelegenen Hofes: Was für den Touristen eine Hubertuskapelle, birkenumrauscht auf einsamer Kuppe, ist für den Einheimischen schlicht die Strohriegelkapelle, und das Marterl mit dem pausbäckig gemalten Heiligen Florian, das sich gegenüber dem Hof des vulgo Kreuzlipp befindet, ist in sieben Gemeinden als "Kreuzlippnkreuz" bekannt.


3
Mehr als Schall und Rauch

Haus- und Flurnamen auf dem Land, jahrhundertelang verballhornt und unendlich schwer zu verschriftlichen, sind alles andere als Schall und Rauch; sie sind im Boden verwurzelt wie dreihundertjährige Bäume. Der Bauer auf der Reschleiten ist und bleibt der Reschleitenbauer, wie immer er auch vor dem Gesetz heißen mag, und der vulgo Haas auf dem Nebenegg ist der Nebenegg-Haas, wodurch jede Verwechslung mit dem Haas drei Leiten weiter  ausgeschlossen ist. In den Tälern und auf den Bergen thommerlt und simmerlt es munter dahin, während an den Bächen der Bachlipp haust und auf der Wiese der Wiesenhiasl. Keine Gemeindezusammenlegung kann daran etwas ändern.

  
Erschienen in: steirische berichte 1/2014